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Chile: Brief von Tamara Sol Vergara aus dem chilenischen Knast

„Ich danke euch für alle erhaltene Unterstützung. Ich spürte in den Venen eure bedingungslose Liebe. Jeder Brief, jede Notiz, jeder prima Kuchen oder Moneten, ist eine Freude und ein Energieschub in diesem Käfig. Die Möglichkeit ergreifend, dass ihr alle versammelt seid, werde ich einige Zweifel klären, die da oder dort kursieren.

Was die Aufklärung der Geschehnisse angeht, werde ich kein Wort sagen, aber doch nicht unterlassen ein Signal zu geben in dieser Situation. Was den Knast angeht, prallte ich auf ein bestimmtes Panorama, ganz klar mit den Eigenschaften des Abschnitts, wo ich bin, „öffentliche Kennzeichnung“ genannt, wo die Knäste auf eine schizophrene „Freundschaft“ mit den gefangenen Frauen abzielen und noch stärker auf das dementsprechende Stockholmsyndrom*. Angesichts dessen war meine Haltung, meine Distanz, die sich zwischen Geiselnehmer und Geisel gehört, so freundlich sie auch sein konnte. So hab ich mir einen gewissen „Ruf“ als Feindin der WärterInnen erworben, folglich lassen sie mich in Ruhe. Mit den Anderen des Abschnitts ist mir gelungen die Unstimmigkeiten zu überwinden, die durch die 24 h erzwungenen Zusammenlebens natürlich entstanden sind und es ist mir auch gelungen, etwas Ausgleich zwischen dem Zusammenleben und meinem antisozialen Wesen zu finden. Was die, für die Ermittlungen schädlichen, Soligesten angeht, ist meine Position, dass solche Gesten nie aufhören sollen, obwohl sie von der/dem Gefangenen auch immer abgelehnt werden dürfen. Die Nachrichten von dem was draußen geschieht, sind unter uns und auch für die Familien das, was überdies unsere Moral hebt, die in den letzten drei Monaten am Boden zerstört war. Aus demselben Grund, GenossInnen – und mit der entsprechenden Kritik/Selbstkritik – welche öffentliche Einschätzung man auch mache, sie muss aus der Aktion heraus kommen. Man sagt die beste Art zu lehren sei handeln. Unsere Aufgabe ist jetzt unermüdlich zu lernen, ein Gleichgewicht zu finden zwischen Intelligenz und Praxis und das eigene Ego beiseite zu lassen, die Verantwortung für unsere Fehler zu übernehmen und uns auf das zu konzentrieren, was wir manchmal vernachlässigen.

Jede und Jeder weiß, was ich meine, so wir ihr verstehen konntet, was am 21. Januar geschehen ist und das angesichts eines toten oder gefangenen Genossen unsere Gefühle dieselben sind, man kocht vor Wut, das Herz rast und wir weinen zusammen um ihn.

Denn so oder so, wir kennen und lieben uns und wissen, dass wir Wenige sind, aber wir sind, existieren und knüpfen Beziehungen. Diese Bindung ist unsere Antwort auf die Bindungen der Existenz/des Systems wo Machismus, Macht und Kompetenzen von den Frauen reproduziert werden. Es ist das, was mich aufrecht, lebendig und hoch erhobenen Hauptes erhalten hat und mit jenem Stempel als politische Gefangene, der dem braven Gefangenen Schwierigkeiten bereitet.

Als erste Erklärung hoffe ich euch nicht gelangweilt zu haben. Ich sende euch eine Umarmung, voller Kraft und Energie, die ihr mir gebracht habt am Tag, an dem ihr zum Gedenken an den Tod der 81 Gefangenen in genau diesem Knast gekommen seid. Der ganze Knast hat es bemerkt und nun grüßen sie mich in den Korridoren. Ein dermaßen masochistisches Ding, dass es mich vor lauter weinen ohne Tränen gelassen hat.

Herzlich, allen GenossInnen
Sol hat euch gern“

* Stockholm Syndrom bezieht sich auf einen bestimmten Zustand des Geistes, der sich nach einem extrem gewalttätigem Erlebnis oder einer traumatischen Episode, z. B. Entführung oder kontinuierlicher Missbrauch, manifestiert. Wird diese Person mit Stockholm Syndrom in Gefangenschaft gehalten oder missbraucht, empfindet die Person positive Gefühle, darunter auch Liebe, für seine/ihre Folterer, welches sich dann über eine Art Bündnis und Komplizenschaft zwischen dem Opfer und der Folterer ausdrückt.

Um ihr zu schreiben:

Tamara Sol Vergara
Pieza 1, modulo 1, piso 3 – sur.
Cárcel de san Miguel (Chile)

Übersetzung ins Italienische von den Compas von Beznachalie – sie bekamen den Brief, der ungefähr im Februar verfasst wurde, von den Compas von Radio Mayday. Der Brief wurde während des Soli-Essens in Villa Francia verlesen und ist auf spanisch auf auffindbar.

Üb., mc, Lenzburg (leicht editiert)